Kölnische Erfrischungstüchlein für die Fahrerstirn zählten zur luxuriösen Ausflugsausstattung der Vorgenerationen – gemeint sind damit leibliche Eltern oder Großeltern und nicht Fahrzeugmodelle. Heute gilt der ungebrochene, wenn auch wenig offen kommunizierte Wunsch nach Heftpflastern für den Mund des Beifahrers als serienmäßige Ausstattung. Denn die menschliche Psychologie und Funktionsweise tut sich über Jahrhunderte bis gar Jahrtausende schwer, was jeweilige Updates von Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung betrifft.
Trotz serienmäßiger Gleichberechtigung mit dem „Airbag für dich, Airbag für mich“ bleibt das mulmige Gefühl bei vielen Beifahrern. Besonders bei den männlichen Beifahrern, obwohl die Unfallstatistik Männern Grund gibt, sich sicherer zu wähnen, als dies ihren Beifahrerinnen vergönnt ist. Doch das innige Gefühl zum Automobil und der Wunsch, die Situation aktiv im Griff zu haben, sind Voraussetzungen, die insbesondere den Mann zu Krämpfen auf dem Nebensitz prädestinieren.
Mit dem Leiden am Beifahren hat sich Rainer Schönhammer, Professor für Psychologie, beschäftigt. „Das Beifahrer-Syndrom wird häufig mit der Flugangst verglichen, doch der Vergleich hinkt“, erläutert Schönhammer. „Beim Beifahrer geht es nicht allein darum transportiert zu werden. Dagegen ist dem ängstlichen Flugpassagier die bloße Tatsache des Abhebens Anlass zur Angst. Passiv sind übrigens auch Bahnfahrer, und da sucht man vergebens nach Berichten von vor Angst verkrampften Zugpassagieren.“
Wenn Autofahrer-Anekdoten von durchgetretenen Bodenblechen auch eher zu den modernen Sagen zählen, so bringen sie das Problem auf den Punkt. Denn insbesondere der als zu gering empfundene Abstand veranlasst fahrkundige Beifahrer zu jenen Phantom-Bremsungen, die regelrecht als Synonym für Beifahrerleiden gelten. „Für den Beifahrer ist jeder Abstand falsch, der nicht den eigenen Fahrgewohnheiten entspricht“, erklärt Schönhammer. Zudem erkenne der Beifahrer häufig nicht die Absicht des Fahrers oder der Fahrerin. Säße der Beifahrer selber am Steuer, würde er einen Abstand durchaus noch als ausreichend empfinden, da er wüsste, dass der Verkürzung sogleich ein Spurwechsel folgt. Da der Beifahrer aber nur das äußere Geschehen verfolgen könne, sehe er sich schnell auf der Rückbank des Voranfahrenden.
Die Differenz von Handeln und Beobachten bestimmt nicht nur das Verhältnis von Fahrer und Beifahrer. Sie ist der Knackpunkt vieler Beziehungen, insbesondere der intimen. Deshalb offenbart sich für den Soziologen Niklas Luhmann just im Auto das Problem der partnerschaftlichen Kommunikation: Denn ebenso wie sich Handeln und Beobachten überschnitten, verhalte es sich mit dessen Bewertung: Der Handelnde sehe sein Tun durch die Situation veranlasst, der Beobachter begründe es stärker mit persönlichen Eigenschaften des Handelnden. Entsprechend unterschiedlich würden die Ursachen eines bestimmten Fahrverhaltens beurteilt. Nirgends wird dieser Unterschied deutlicher als im Auto: Wer am Steuer sitzt richtet sich nach der Verkehrssituation und fährt – wie er meint – völlig korrekt. Der Beifahrer, der nur beobachtet, führt die Fahrweise auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Seine Möglichkeiten des Handelns sind auf das Kommentieren und Kritisieren beschränkt, was beim Fahrer erfahrungsgemäß nur selten Zustimmung findet. Während eine gemeinsame Taxifahrt kaum Anlass zu Diskussion bietet, sind gemeinsame Autofahrten eines Paares oft der Beginn von Grundsatz-Debatten, die die gesamte Beziehung infrage stellen. Ein Wechsel der Positionen kann hilfreich sein, um aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen. Und wenn auch das nicht hilft, steige einfach aus und quäle dich nicht länger.
Tipp für die Autoindustrie: Die Bremspedal-Attrappe für den Sitz rechts ist eine Marktlücke.